Im Beauty-Bereich entstehen immer mehr kleine Nischenmarken, die hochspezialisiert sind, neue digitale Vertriebswege nutzen – und vor allem verstärkt natürliche Inhaltsstoffe einsetzen. Denn Schönheit ist heute weitaus mehr, als nur eine „schöne Fassade“.

Aufstieg der Nischenmarken

Wie alles in unserer vielschichtig gewordenen Welt ist auch Schönheit nicht mehr einfach zu erklären und zu vermarkten. Urbanisierung, Digitalisierung, ein wachsendes Gesundheits- und ökologisches Bewusstsein verändern unseren Lebenskontext, unser Verhalten und selbstverständlich auch unsere Glaubenssätze und Narrative rund um Schönheit. Und das rührt zu einem Umbruch, den die Hersteller, die Vertriebskanäle und die Werbetreibenden stark zu spüren bekommen. Die großen Marken verlieren gegen ihre kleinen Herausforderer an Boden. Diese wachsen jährlich um 15,7 Prozent und damit viermal so schnell wie etablierte Kosmetik-Riesen. Mittlerweile beträgt ihr Marktanteil zehn Prozent. Die Unternehmensberatung McKinsey meint den Grund zu kennen: die Challenger sind digitaler aufgestellt. Es ist allerdings nicht die Technologie, sondern der Content und die Beziehungsstrategie, die den eigentlichen Unterschied ausmachen.

Die erfolgreichen Gründer Jerrod Blandino and Jeremy Johnson von Too faced fassen ihre Beziehungsstrategie so zusammen: „We are the make up equivalent of your gay best friend!“ (übersetzt: „In Sachen Make-up sind wir das Äquivalent zu deinem schwulen besten Freund“). Und was auch immer von ihnen kommt, ist genau so: Laut, bunt, humorvoll und ironisch. Und wie ist das bei dem erfolgreichen Newcomer Tata Harper? Als eine 100 Prozent natürliche Marke, die mit fund-raising gestartet ist und nun jährlich um 50 Prozent wächst, wirbt sie mit der Botschaft „Dare to go bare“ („Wage es, dich zu entblößen“). Auch hier war die digitale Technologie nur Träger der Botschaft. Die neuen, frischen Glaubenssätze und Codes im Bereich Beauty sind deutlich interessanter zu betrachten und sie sind viel zu selten Thema – daher haben hier die viel diskutierten E-Commerce und Social Media-Strategien mal einen Moment Pause.

Neue Narrative von Schönheit

Es gab eine Zeit, da war das Gegenteil von „schön“ „hässlich“. Wenn der liebe Gott oder die eigene DNA es nicht gut mit einem meinten, konnte man sein Los bitterlich beklagen oder gegen die vermeintliche Hässlichkeit aktiv werden. Das Versprechen: Creme Dich, schmink Dich, färb Dich, operiere Dich … Schönheit ist machbar. Das Ergebnis zählt. Immer perfekter digital-gemorphte Werbegesichter und -körper erzeugten einen perfiden, aber lukrativen, ständigen Handlungsbedarf. Heute kommt ein neues Narrativ hinzu: Schönheit beginnt schon hinter den Fassaden, denn es zählt auch, wie sie entstanden ist. Und schön kann nur sein, was wiederum Schönes erzeugt und bewirkt. Das Gegenteil von „schön“ ist heute konsequenterweise nicht mehr „hässlich“, sondern „verantwortungslos“. Schönheit braucht heute schöne Wurzeln und muss Schönes säen. Dafür muss sie für viel mehr sorgen als für eine schöne Fassade! Nämlich für Gesundheit von Körper und Geist, für ungeschminkte Authentizität, positive Handlungen, sinnstiftende Verbindungen und für das Zelebrieren von Diversität.

Mega-Trends hinter dem Wandel

Die Revolution, die die neuen Marken in der Beauty-Branche angezettelt haben, geht nicht von der Technologie und auch nicht von den innovativen neuen Produkten aus, sondern von der neuen Haltung. Hier schreiten die kleinen Marken erfolgreich voran und Retailer nehmen den Trend auf, denn auch ihnen ist an starkem Content und guten Beziehungsstrategien gelegen. Es gibt große Trendbewegungen, die heute schon Entwicklungen vorskizzieren, Markenhersteller unter Zugzwang setzen oder ihnen neue Chancen bieten, wieder näher an den Konsumenten heranzukommen.

#1 Mind the Megacities: Bereits jetzt leben mehr Menschen in urbanen Räumen als auf dem Land. Im Jahr 2040 sollen 65 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Für 2050 gehen die Einschätzungen von 70 oder sogar 80 Prozent aus. Das urbane Leben wird zunehmend als toxisch empfunden. Der Luftverschmutzung, UV-Belastung und dem HEV-Licht begegnen Menschen mit „Urban Detox“, der ungesunden Ernährung mit „Anti-Pollution-Food“, dem chronischen Schlafmangel, den wachsenden entzündlichen Prozessen und dem Stress mit CBD, Meditation oder „Psycho-Dermatologie“. Insgesamt wächst die Sehnsucht nach einfachen, natürlichen Rezepten für eine ganzheitlichere Herangehensweise.

#2 Seamless Connection: Die neuen Technologien haben die Art und Weise, wie wir einkaufen grundlegend gewandelt und bringen großartige Chancen mit sich. Große Teile der Weltbevölkerung können auf diese Weise Services und Beratungen erhalten, die anders keinen Zugang dazu gehabt hätten. In der Beauty-Branche wird viel in KI-gestützte Diagnose-Tools investiert. Damit kann mittels eines Fotos Haut u. a. auf Anzeichen von Hautalterung gescannt und Behandlungsempfehlungen gegeben werden. Ein Trend, der gerade in Hinblick auf eine alternde Gesellschaft, aber auch für die wachsenden neuen Märkte Indien und China interessant wird.

# 3 Corporate Detox – Das Thema Nachhalti gkeit hat Breitenwirkung erzielt, was u. a. zu einer erhöhten Sensibilität der Verbraucher gegenüber Themen wie Verpackungsmüll, Mikroplastik, Herstellungsverfahren und Inhaltsstoffen geführt hat. Kosmetikunternehmen sind aufgerufen, tatkräftig aktiv zu werden.

Europa Bendig
Die Semiotikerin & Innovationsstrategin ist Geschäftsführerin von Sturm und Drang, der Hamburger Agentur für Cultural Research und Open Innovation.
www.sturmunddrang.de