Das hier ist ganz allein ihr Revier, dieser kleine Garten mit Blick auf die massiven Berge im Hintergrund. Ave Annama zupft ein Blättlein Minze und lässt den Gast dran schnuppern. „Das öffnet die Zellen, reinigt die Haut und kühlt zugleich.“ Schnell wandert ihre Hand im Beet ein paar Zentimeter weiter bis zum Thymian. „Seine Blätter unterstützen ebenso wie Lavendel alle jene, die mit dem Rauchen aufhören wollen.“ Und das da drüben? „Melisse“, sagt Ave Annama. „Abends eingenommen, beruhigt sie für die Nacht.“ So könnte das Gespräch wohl noch eine ganze Weile weitergehen. Hauswurz (hilft wie Aloe Vera bei Sonnenbrand), Lindenblüten (unter den Baum stellen, das wärmt), Brennessel (gilt als das Waschmittel des Körpers und entschlackt) oder was auch sonst so da draußen grünt und blüht: Die 42-Jährige kennt sich aus. Ave Annama ist angestellt im Stanglwirt. Und arbeitet dort: als Kräuterhexe. Kein Witz. Tatsächlich legt die gebürtige Estin – sie stammt aus Tartu, der zweitgrößten Stadt der baltischen Republik – Wert auf diese Bezeichnung. Hexe? Klingt das nicht irgendwie … böse? Ave Annama lacht. Und erklärt dem Gast, der sich mit ihr im Spa des Fünf-Sterne-Hotels zum Interview getroffen hat und deswegen im Bademantel am Kräuterbeet steht, warum der Begriff ganz positiv besetzt ist. „Einst waren das weise Frauen, die mit ihrem Wissen helfen wollten. Die sich mit der Natur und besonders mit Kräutern auskannten.“ Und das tut auch Ave Annama, und zwar schon von Kindesbeinen an. Dass sie im Spa des Stanglwirt arbeitet, ist ein Glücksgriff für das Bio-Hotel – und purer Luxus für die Gäste, die ihren Rat schätzen.

Über die Showtreppe ins Spa

Apropos Luxus: Den spüren Besucher im Stanglwirt-Spa, dem weiträumigen Wohlfühl-Zentrum des Hauses, schon beim Eintritt. Über beleuchtete Stufen – die an eine Showtreppe aus dem Fernsehen erinnern – geht es hoch zur Wellness-Rezeption. Alles ist freundlich-hell und mit viel Holz ausgestattet, an den Wänden wächst beeindruckendes irisches Moos. Der grüne Farbtupfer ist gut fürs Klima und schluckt zugleich den Schall. Zwischendrin plätschert leise ein Brunnen mit Wasser aus der eigenen Quelle. Und wie das duftet! Gleich sogar noch ein wenig mehr in einem der Behandlungszimmer in den weitläufigen Gängen. Es sind die Kräuter, die im heißen Massagestempel stecken und die bei der entsprechenden Prozedur immer und immer wieder auf den Rücken oder die Beine gedrückt werden. Während draußen vor den Fenstern der imposante Wilde Kaiser thront – mehr als 2000 Meter hoch und die Gipfel schneebedeckt. Herrlich!

Zurück zu Ave Annama, die vom Kräutergarten durch eine große Glastür wieder im Spa angekommen ist. Schon bei Oma und Tante habe sie als junges Mädchen viel mit der Natur zu tun gehabt. Aus Lindenblüten entstand Tee, aus Beeren Marmelade oder Saft. Seit sieben Jahren wohnt die Estin im nahen St. Johann, seit zwei Jahren arbeitet sie als Therapeutin im Stanglwirt in Going. Phytotherapie hat sie studiert, Pflanzenheilkunde also, lernte und arbeitete in Deutschland, Österreich, Spanien. Jetzt ist sie zurück in der Alpenrepublik. Und rät Gästen, die im Spa „mit Wehwehchen“ zu ihr kommen, stets zunächst dies: „Gehen Sie besser erstmal zum Arzt!“ Denn erst wenn das Blut untersucht worden ist, eventuell eine Diagnose erstellt wurde, setzt die Arbeit der „Kräuterhexe“ an. Woher kommt der Kopfschmerz? Warum bin ich so oft müde? Ave Annama hört den Spa-Gästen zu, bringt dann die Kraft der Natur ins Spiel. „Schockierend, wie wenig die Leute darüber wissen.“ Dafür bietet sie jede Woche Kräuterwanderungen in die Berge hinterm Hotel an. Fast alles an kleinen Helfern findet sich dort. Sauerklee mit Vitamin C zum Beispiel. Brennnesselblätter, die gut bei Rheuma sein sollen. Oder deren Samen, wenn die männliche Potenz schwächelt – fügt Ave Annama verschmitzt hinzu. „Es gibt für alle Sorgen eine Lösung der Natur.“

Der erste Eindruck täuscht

Wer im Stanglwirt residiert und nicht mindestens einen Tag im riesigen Wellness-Areal weilt – Spa, Wasserbecken, Ruheareale und Saunen umfassen satte 12 000 Quadratmeter Fläche –, der verpasst etwas. Überhaupt sollte er genügend Zeit mitbringen, um alle Angebote im Hotel zu erkunden. Die Anreise ins Örtchen Going, nur ein paar Kilometer vom Skiort Kitzbühel entfernt, ist eher unspektakulär. Von der Straße aus wirkt das Hotel gar nicht mal so groß. Doch der Eindruck täuscht, und zwar kräftig. „Wir sind ein Bauernhof mit angeschlossenem Luxushotel“, formuliert Ramona Hochfilzer, die sich ums Marketing im Haus kümmert.

170 Gästezimmer mit rund 360 Betten gibt es. Rund 300 Mitarbeiter – je nach Saison – kümmern sich ums Gästewohl. In der mittlerweile elften Generation führen drei Geschwister der Familie Hauser die Geschicke des Hauses. Johannes (30) sorgt sich um Essen und Getränke sowie die Landwirtschaft samt Tieren und Wald. Elisabeth (33) ist Controlling-Expertin und für die Lipizzaner-Zucht zuständig. Maria mit ihren 37 Jahren hat unter anderem im Spa das Sagen. Über allem hält ihr Vater Balthasar Hauser als Herr im Haus mit seinen bald 72 Jahren die Fäden fest zusammen. Er war es auch, der als erster ganz auf Öko-Tourismus gesetzt hat. „Er hat den Hof mit 17 Jahren übernommen“, erzählt Tochter Maria. „Vieles, was wir heute sehen, wurde von ihm gestaltet – und immer hat er als Visionär die Natur integriert, was anfangs mitunter belächelt wurde.“

Ein Visionär in Sachen grün

1980 nahm das europaweit erste Biomasse-Kraftwerk im Hotel die Arbeit auf. „Grüne Werte“ zählten damals schon beim Betrieb, noch bevor „bio“ und „öko“ in aller Munde waren. „Möglichst klimaneutral soll heute gewirtschaftet werden“, sagt Maria Hauser. Energie wird – ganz ohne CO2-Ausstoß – über die hauseigene Kaiser-Quelle mittels Wärmepumpen gewonnen. Die Lebensmittel für die Restaurants stammen großteils aus eigener Erzeugung – Fleisch, Fisch, Brot und Käse etwa. Was zugekauft wird, ist möglichst regional. Die Wurzeln des ersten Stanglwirt lassen sich bis 1609 zurückverfolgen. Heute parken statt
Postkutschen die Nobelschlitten am Haus. Die Zimmer sind zu mehr als 90 Prozent ausgelastet – so manches andere Hotel kann davon nur träumen. Visionen haben die Stanglwirt-Betreiber immer noch. Weil gutes Personal ein hohes Gut ist, entsteht nebenan ein neues Mitarbeiterhotel. „Eine Investition in die Zukunft“, sagt Maria Hauser. Denn nur so lassen sich die besten Mitarbeiter gewinnen – und welches Hotel leistet sich schon eine Kräuterhexe?

STANGLWIRT BIO- UND WELLNESSRESORT
Das Hotel befi ndet sich in Going, Tirol. Von München fährt der Zug etwa zwei Stunden (mit Umsteigen) bis zum Bahnhof Kitzbühel. Dort sind es mit dem Shuttle nochmal 15 Minuten Fahrt. Zum Flughafen Salzburg sind es rund eine Stunde Autofahrt. www.stanglwirt.com