Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Seit Jahren greifen immer mehr Menschen zu Kosmetik, deren Inhaltsstoffe ganz aus der Natur kommen oder die zumindest als naturnah gelten. Allein im ersten Halbjahr 2019 erreichten diese Produkte hierzulande ein Umsatzplus von acht Prozent. In Deutschland, Österreich und der Schweiz liegt der Marktanteil von Naturkosmetik aktuell bei 8,3 Prozent. Insgesamt wurden zuletzt knapp 1,5 Milliarden Euro im Jahr damit umgesetzt, wie eine Studie belegt (www.naturkosmetik-konzepte.de).

Dabei verändert sich gerade der gesamte Kosmetikmarkt – und zwar rasant und radikal, wie die Teilnehmer des Naturkosmetik Branchenkongresses im September 2019 in Berlin erfuhren. „Mit diesen Veränderungen verbunden sind auch besondere Herausforderungen für die Branche – diese müssen ebenso authentisch wie innovativ gemeistert werden“, fasst es Wolf Lüdge, Programmvorsitzender der Veranstaltung zusammen. Alle Anbieter von Kosmetik werden sich damit beschäftigen müssen, dass Produkte, Anwendungen und Treatments individualisiert, personalisiert und auf die Bedürfnisse des einzelnen Kunden abgestimmt werden. Das bedeutet eine echte Herausforderung, vor allem auch für kleine Naturkosmetikmarken – aber auch eine Chance, sich gegenüber so manch behäbigen Platzhirschen aus der konventionellen Kosmetik zu behaupten.

Natürlich mit Wirkung

Ein weiterer spannender Aspekt war auf der Berliner Naturkosmetikveranstaltung zu hören: Weniger Marke, mehr Wirkung – dies wird in Zukunft der maßgebliche Faktor sein. Das erklärte Expertin Marta Kwiatkowski Schenk vom Gottlieb-Duttweiler-Institut. Die Forschungseinrichtung mit Sitz in Rüschlikon bei Zürich gilt als unabhängige und älteste Denkfabrik der Schweiz. Fast scheint es also, als sei die Schonfrist für Naturkosmetik vorbei. Und als müsse sich die Branche ab sofort mit den klassischen Anbietern vergleichen und messen lassen. Vor allem bei dem Thema Wirkung hatte die Naturkosmetik noch vor ein paar Jahren so ihre Schwierigkeiten. Doch inzwischen gehört das längt der Vergangenheit an. In den Regalen der Anti-Aging-Kosmetik tummeln sich immer mehr Tiegel und Tuben von grünen Herstellern. Hyaluron und Co. werden bei Naturalbeauty-Produkten schon längst gegen innovative Inhaltsstoffe mit gleicher Wirkung ersetzt. Spannend: Vor allem die Algen spielen bei der Suche nach hochwirksamen alternativen Wirkstoffen in der Industrie eine immer größere Rolle.

Mit Engagement bitte

Im Fokus der umweltbewussten Verbraucher stehen nicht nur die Inhaltsstoffe. Auch die Art der Verpackung, deren Recycelbarkeit und Alternativen wie Refill- und Mehrwegsysteme werden er- und hinterfragt. Wichtig für viele Verwender sind zudem das soziale Engagement der Firmen sowie deren Einsatz zum Thema Biodiversität. Das heißt: Wird die biologische Vielfalt von Flora und Fauna in diesem Ökosystem, in dem die verwendeten Pflanzen wachsen, auch tatsächlich langfristig erhalten? Auf die Frage der langen Transportwege von Rohstoffen antwortet Anja Raiser, Gründerin der Naturkosmetik Shamanic: „Unsere Rohstoffe stammen aus dem Amazonas-Gebiet, hauptsächlich, aber nicht alle, aus Brasilien. Umweltzerstörung entsteht durch Brände und Rodung gerade in den Gebieten, in denen die einheimische Bevölkerung keine Arbeit mehr hat. Wildwachsende Ernte gibt den Gemeinschaften einen wirtschaftlichen Sinn und trägt zum Wert und der Erhaltung des Regenwaldes bei. „Natürlich könne der Rohstofftransport kritisch betrachtet werden. Doch dürfe man nicht vergessen, dass vielfach die Existenz ganzer Familien durch solche Projekte getragen wird. Wirtschaft sichere auch soziales Umfeld. „Für uns ist die Frage weniger, ob wir die Rohstoffe versenden, sondern vielmehr, wie wir das tun. Wiederverwendung von Kanistern, Bündelung von Ware, Vermeidung von Verschwendung sind da beispielsweise Maßnahmen. Aber auch die Tatsache, dass wir nicht raffinieren und kein Wasser verwenden, ist ökologisch sehr wertvoll“, sagt Anja Raiser.

Was in Sachen Naturkosmetik nach wie vor schwierig ist: die Zertifizierung. Neben den klassischen Siegeln – wie dem vom BDIH (Bundesverband deutscher Industrie- und Handelsunternehmen), dem Natrue-Label, Demeter, Ecocert (ein französischer Zertifizierungsverband für ökologische Produkte) sowie der Veganblume, die 1990 von der Vegan Society ins Leben gerufen wurde, tummeln sich noch viele andere oft auch internationale Label auf den Produkten. Im Zweifel bleibt also nur, sich bei der Kennzeichnung der INCI-Liste – also der Internationalen Nomenklatur für kosmetische Inhaltsstoffe – genau zu informieren. Oder eine der Verbraucher-Apps auf dem Handy zu installieren und so noch vor dem Kauf im Geschäft mehr Informationen über die Produkte zu erhalten. Den Verwendern von Naturkosmetik wird ja seit jeher ein großes Stück Insiderwissen und Eigeninitiative nachgesagt – was sich jetzt auszahlt.