Mühsam windet sich die in die Jahre gekommene Piper Navajo in den wolkenlosen Himmel über dem Denali-Nationalpark. Obwohl die Zeiger der Uhr schon auf 21 Uhr zukriechen, steht die Sonne noch hoch oben am Firmament. Erst kurz vor Mitternacht wird sie kurz hinter dem Horizont verschwinden, nur um gegen 3 Uhr wieder aufzutauchen. Sommer in Alaska.
Am Steuerknüppel der Maschine sitzt der deutschstämmige Andrew Herbert. Seinen Pilotenschein hat der 22-jährige, leger in T-Shirt, Jeans und Baseballkappe gekleidete Sonnyboy bereits im Teenageralter erworben. Noch vor dem Führerschein. Nicht ungewöhnlich in einer Region, in der viele Orte nur per Flugzeug, Boot oder über endlose Schotterpisten in Offroad-gängigen Trucks erreichbar sind. Jeder fünfte Einwohner Alaskas hat deshalb eine Fluglizenz. Weltrekord!
Unterwegs im Nirgendwo
In den Sommermonaten fliegt Andrew Touristen. Den Rest des Jahres ist seine Piper lebensnotwendige Nabelschnur für Versorgungsflüge zu einsamen Goldgräbercamps am Yukon, abgelegenen Erzminen oder winzigen Trapper- und Fischersiedlungen im Nirgendwo. Das macht das Leben im arktischen Outback teuer. Ein Gallone Milch – nicht ganz vier Liter sind das – per Luftfracht kostet bis zu 36 Dollar. „Da trinken die meisten lieber Wasser“, erzählt Andrew und schmunzelt. Und davon gibt es im Land der 100 000 Gletscher und mehr als drei Millionen Seen reichlich.
Während die Maschine sich immer höher schraubt, erstrecken sich unter uns die schroff in den Himmel aufragenden Felstürme der Alaska Range, nördlichste Ausläufer der Kordilleren, einer riesigen Gebirgskette. Über ihnen thront, weithin sichtbar, majestätisch der mächtigste Gipfel Nordamerikas: der 6190 Meter hohe Denali – bis 2015 hieß er noch Mount McKinley. In der Sprache der indigenen Athabascans bedeutet Denalos „Der Große“ oder „Der Mächtige“. Die Flanken des zu den legendären Seven Summits zählenden Felsmassivs ragen bis zu 5500 Meter über die umliegende Landschaft auf und machen den Denali damit zu einem der markantesten Berg der Welt, imposanter noch als den Mount Everest. Gleichzeitig ist er einer der klimatisch extremsten Gipfel der Erde. Im Winter fallen die Temperaturen regelmäßig unter minus 40 Grad Celsius. Und selbst im Sommer toben oft orkanartige Stürme in den eisigen Höhen seiner schneebedeckten Gipfeltürme. Und da sich der Denali zudem oft in undurchdringliche Wolkenschleier und geheimnisvolle Dunstschwaden hüllt, erlebt nur eine Handvoll Besucher des Parks den Berg an einem der wenigen Schönwettertage in seiner ganzen, monumentalen Urgewalt.
Die Piper ist laut GPS noch mehr als zehn Kilometer von der Südwand des Denali entfernt. Seine Flanken sind von Eisquadern in der Größe von Einfamilienhäusern übersät, die von unserer Position aus wie Eiswürfel in einem Longdrinkglas wirken. Es scheint, als wolle uns die endlose Vertikale aus Schnee und Eis verschlingen. Als der Höhenmesser schließlich 13 000 Fuß anzeigt, wird es Zeit für die Sauerstoffmasken. Denn in der kleinen Maschine gibt es keinen Druckausgleich. Als reiner Sauerstoff in die Lungen zu strömen beginnt, kommt nach wenigen Sekunden heftige Übelkeit auf und die Haut beginnt am ganzen Körper zu prickeln. Aber das atemberaubende Panorama, das uns zu bedeutungslosen Staubkörnern degradiert, entschädigt für alle Mühen, die es gekostet hat, um hierher zu kommen – ans Ende der Zivilisation. Schließlich umkreisen wir den strahlend weißen Gipfel in rund 6500 Metern Höhe. Ein unvergessliches Erlebnis.
Im Schulbus durch den Park
Tief unter uns machen wir eine Seilschaft aus, die jetzt, am frühen Abend, gerade vom letzten Höhenlager aus zum Gipfel aufbricht. Wenn alles gut geht, wird sie ihn wohl gegen drei Uhr in der Früh erreichen. Zum Schutz der Bergsteiger, die sich zwischen Mai und Juli hier fast rund um die Uhr hinaufquälen, sind direkte Überflüge nicht erlaubt. Zu groß wäre die Gefahr, dabei Lawinen auszulösen. Aber auch zurück am Boden bleibt der Denali der unbestrittene König des ersten und größten Nationalparks im 49. US-Bundesstaat. Am unkompliziertesten lässt sich der Berg
über eine organisierte Tour erkunden, denn für private Fahrzeuge und Wohnmobile ist der Park weitgehend gesperrt. Los geht es dabei oft schon um halb fünf morgens in umgebauten Schulbussen. Die acht- bis zwölfstündigen Wildlife-Adventures führen dabei auf unbefestigten Straßen etwa 120 Kilometer bis ins weitgehend unberührte Zentrum des etwa 24 500 Quadratkilometer großen Schutzgebietes.
Tour-Guide Jim erspäht entlang der halsbrecherischen Route, die teilweise entlang jäher Abgründe führt, dank geschulter Adleraugen zottige Elche. Sie sind gerade dabei, ihr Winterfell abzustreifen. Daneben: Scheue Karibus, schneeweiße Wildschafe und honigbraune Grizzlys fast im Minutentakt. Die Gefahr, bei den kurzen Stopps an ausgewiesenen Rastplätzen unvermittelt vor einem zwei Meter aufragenden Pelzknäuel zu stehen, oder im Unterholz einem Elch in die Quere zu kommen, ist da nicht zu unterschätzen. Vor allem, wenn die Tiere grade Nachwuchs bekommen haben. Sollte es tatsächlich zu einer Begegnung mit einem Bären kommen, sollten wir unbedingt die Ruhe bewahren, gibt Jim seinen Fahrgästen in lässigem Plauderton mit auf den Weg zur Buschtoilette. „Wegrennen ist nämlich das Dümmste, was du in so einem Fall machen kannst, das aktiviert nur den Jagdinstinkt.“ Stattdessen lieber wild mit den Armen fuchteln, laute Geräusche machen und sich langsam Schritt für Schritt zurückziehen, ohne dem Grizzly dabei in die Augen zu schauen. „Beten schadet auch nicht“, ergänzt er noch – dann öffnet er die Bustüren. Unterkünfte im und am Rande des Parks gibt es auf mehreren Campingplätzen und in teilweise recht komfortablen Lodges. Doch erst einmal muss der Besucher den abgelegenen Park erreichen.
Drehkreuz in die Welt
Ausgangspunkt für einen Besuch des Denali ist für die meisten Zivilisationsflüchtlinge das am Cook-Inlet gelegene Anchorage, gegründet 1915 als Hauptquartier der Alaska Railroad. Heute lebt es von Öl, Gas, Gold und Tourismus. Mit mehr als 300 000 Einwohnern – rund die Hälfte der gesamten Bevölkerung –, die sich hier auf einer Fläche vergleichbar mit dem kompletten US-Bundesstaat Delaware verteilen, ist Anchorage die größte Stadt Alaskas. Weit vor der ehemaligen Goldgräbermetropole Fairbanks im Landesinneren mit rund 52 000 Einwohnern auf Platz 2 und Alaskas nur per Flugzeug oder Boot erreichbarer Hauptstadt Juneau, in der rund 32 000 Frauen und Männer leben.
Traurige Berühmtheit erlangte Anchorage am 27. März 1964, als die Stadt beim sogenannten Karfreitagsbeben regelrecht ausradiert wurde. Ganze Stadtteile sanken während der nur rund fünf Minuten andauernden Erdstöße, die eine Magnitude von 9,2 auf der Richterskala erreichten, bis zu zehn Meter tief ab oder rutschten ins Meer. Der nachfolgende, bis zu 60 Meter hohe Tsunami richtete entlang der gesamten Küste unvorstellbare Verheerungen an. Auch Anchorages Flughafen wurde damals zerstört. Heute zählt er dank strategisch günstiger Lage zwischen Asien, Nordamerika und Europa nicht nur zu den wichtigsten Umschlagplätzen im globalen Luftfrachtverkehr. Der Ted Stevens International Airport wird zudem in den Sommermonaten zum touristischen Alaska-Gateway, von dem bis zu eine Million Besucher jährlich in die insgesamt acht Nationalparks des Staates strömen oder die raue Westküste bis hinunter in die kanadische Metropole Vancouver oder weiter nach Seattle auf einer Kreuzfahrt erkunden. Am Rande der Stadt liegt mit Lake Hood außerdem die verkehrsreichste Floatplane-Basis der Welt, mit mehr als
40 000 jährlichen Starts und Landungen von schwimmenden Flugzeugen.
Per Flugzeug – oder lieber mit dem Zug?
Den Denali erreichen Reisende von Anchorage aus entweder in einer Tagesetappe über den gut ausgebauten Glennund weiter über den Parks-Highway, in gut 90 Minuten per Klein- oder Wasserflugzeug oder mit den verglasten Panoramawagen des McKinley Explorers. Dessen rund neunstündige Fahrt durch unberührte Wildnis gehört dabei dank des bei guter Fernsicht einmaligen Blicks auf das gewaltige Denali-Massiv und die weiteren Gipfel der Alaska Range zu den spektakulärsten Zugreisen der Welt. Rund 120 Kilometer südlich von Anchorage liegt in der malerischen Resurrection Bay mit Seward gleichzeitig einer der wichtigsten Häfen Alaskas. Er ist Ausgangs- oder Endpunkt zahlreicher Kreuzfahrtschiffe, die von hier aus vorbei am Glacier-Bay-Nationalpark mit seinen Eisfeldern die ruhigen Gewässer der insgesamt knapp 1600 Kilometer langen Alaska-Inside-Passage ansteuern. Sie erstreckt sich entlang einem Alaska Panhandle genannten Küstenstreifen und weiter über die Westküste British Columbias bis nach Washington State.
Eine der traditionsreichsten Reedereien im boomenden Alaska-Geschäft ist die 1871 gegründete Holland America Line, die Touristen mittlerweile seit mehr als 70 Jahren mit ihren markanten, blauweißen Ozeandampfern in die entlegensten Winkel der abgelegenen Küstenregion bringt. Aktuell betreibt Holland America zwischen Mai und September auf diversen Strecken bis zu sieben mittelgroße Schiffe, die zwischen 1400 und 2100 Passagiere befördern. Mittlerweile zählt das Unternehmen aber auch zu einem der größten Anbieter von Alaska-Landabenteuern. So besitzt Holland America im Firmenverbund Hotels und Lodges – etwa die McKinley-Lodge im Denali-Nationalpark, aber auch den McKinley-Explorer und die im Zuge des Goldrauschs entlang des Yukon entstandene White Pass Yukon Rail. Sie verbindet Skagway auf Schienen mit dem kanadischen Whitehorse. Ausflugsangebote an den jeweiligen Stationen, wie etwa ein Denali-Gipfel-Flug, gehören dazu. Alaska-Besucher haben
so die Möglichkeit, in relativ kurzer Zeit einige der spektakulärsten Orte zu erkunden. Und tatsächlich gibt es kaum etwas Beeindruckenderes, als Alaska vom Wasser aus zu erleben. Denn die zerklüftete, von James Cook und George Vancouver erstmals kartierte Inland-Passage mit Tausenden von Inseln und tiefen Fjorden, zählt zu den beeindruckendsten Naturlandschaften der Welt. Allen voran der erwähnte Glacier-Bay-Nationalpark mit seinen sieben Gezeitengletschern, die sich im Zeitlupentempo ins Meer ergießen. So wie der Margerie-Gletscher mit dem fast 5000 Meter hohen Mount Fairweather im Hintergrund – eines der meist fotografierten Motive Alaskas. Maximal zwei Kreuzfahrtschiffe
dürfen den Park pro Tag befahren, darunter die der Holland-America-Linie. Etwa die 2004 in Dienst gestellte MS Westerdam, die die Häfen Vancouver und Seward verbindet und auch wenig angefahrene Ziele wie das Örtchen Haines auf der Chilkat-Halbinsel ansteuert. Mit ein wenig Glück begegnet einem hier auch der legendäre weiße Grizzley, von denen heute weniger als 400 Exemplare in ganz Nordamerika leben. Einer dieser „Ghost Bears“ hat vor ein paar Jahren nämlich unweit von Haines sein Revier bezogen. Aber nicht vergessen: Niemals direkt in die Augen schauen …